Titel
Freudenberg. Ein Familienunternehmen in Kaiserreich, Demokratie und Diktatur


Autor(en)
Scholtyseck, Joachim
Erschienen
München 2016: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
640 S., 61 Abb.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Schleusener, Berlin

Nach Studien über Bosch1 und Quandt2 widmet sich der Bonner Historiker Joachim Scholtyseck in seinem neuen Werk der Geschichte des Familienunternehmens Freudenberg. Das 1849 gegründete Unternehmen mit Sitz in Weinheim an der Bergstraße zählt heute zu den größten deutschen Industrieunternehmen mit einem Jahresumsatz von über sieben Milliarden Euro. Widmete es sich früher der Lederproduktion und dem Gerben, konzentriert es sich heute auf Vliesstoffe und Filtration. Den Anlass zu den Forschungen gab eine skandalöse Entdeckung von Anne Sudrow in ihrer umfangreichen Dissertation von 2010 zum „Schuh im Nationalsozialismus“.3 Sudrow fand heraus, dass verschiedene Unternehmen, unter ihnen Freudenberg, 1940 auf einer „Schuhprüfstrecke“ im Konzentrationslager Sachsenhausen Ersatzstoffe für Leder auf ihre Schuhtauglichkeit prüften. Häftlinge eines Strafkommandos wurden unter brutalen Bedingungen gezwungen, das Material ausgiebig zu testen; viele überlebten diese Strapazen nicht.

Durch die brisanten Erkenntnisse aufgeschreckt, entschied sich das Unternehmen, die Firmengeschichte durch Scholtyseck wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen. Mit Ausnahme der Vorgänge um die „Schuhprüfstrecke“ im Konzentrationslager erwies sich das hauseigene Unternehmensarchiv als Quellenspeicher ersten Ranges. Ergänzende Materialien barg Scholtyseck in etwa 40 weiteren Archiven im In- und Ausland. Die Betrachtung des Unternehmens lohnt auch abgesehen von der Verwicklung in die NS-Vernichtungspolitik. Bei den Freudenbergs handelt es sich um Unternehmer, die als liberale Wirtschaftsbürger dem Nationalsozialismus eigentlich distanziert gegenüberstanden, aber von „Arisierungen“ über Beteiligung an der Aufrüstung bis zur Zwangsarbeit umfassend an der NS-Verbrechenspolitik partizipierten. Der sehr späte kollektive Parteibeitritt der Unternehmensführer im Jahr 1943 war nur die logische Konsequenz dieser Entwicklung. Daher taugt Scholtysecks Buch auch als umfassende Fallstudie zu der Frage, wie es möglich war, dass aus liberalen Industriellen ohne ideologische Verbindungen zum Nationalsozialismus willfährige Unternehmensführer wurden, die sich in die NS-Verbrechen verstrickten.

Bereits 1933 übernahm Freudenberg den Schuhgroßbetrieb Conrad Tack & Cie AG – eine der ersten „Arisierungen“ in Deutschland. Auf den ersten Blick erstaunt es, dass Richard Freudenberg als „Hitlergegner mit liberaler Weltanschauung“ (S. 127) an der antijüdischen Ausschaltungspolitik partizipierte, aber es handelte sich um eine sogenannte „freundliche Arisierung“, die auf ausdrücklichen Wunsch des jüdischen Voreigentümers zustande gekommen war. Im Januar 1938 übernahm Tack sechs Filialen der Schuhhandelskette Bottina Schuhgesellschaft mbH. Wenig später übernahm Freudenberg auch die Lederwerke Sigmund Hirsch. Die Gespräche zur Übernahme nannte er „eine der menschlich schmerzvollsten“ Erfahrungen; der jüdische Verkäufer sprach indes von „freundschaftlichen Verhandlungen“. Freudenberg zahlte einen angemessenen Betrag für die Übernahme; der gute Kontakt zu den Voreigentümern hatte über 1945 hinaus Bestand. In diesem Fall zahlte Freudenberg eine Entschädigung von 1,8 Millionen DM; in den übrigen Fällen lagen die Entschädigungsbeträge deutlich niedriger. Nicht immer zeigte sich das Unternehmen großzügig gegenüber „arisierten“ Unternehmen. In einem Fall musste es schließlich die vierfache Summe des eigentlich vorgeschlagenen Entschädigungsbetrages zahlen.

Weniger freundschaftlich als im „Altreich“ fielen die „Arisierungen“ bzw. „Arisierungs“-Versuche in Österreich, im „Protektorat“ sowie in Polen aus. Auch in Frankreich, in den Niederlanden und in Belgien legten sich die Freudenbergs kaum Zurückhaltung auf, wie Scholtyseck detailliert nachweist. Die Unternehmer hatten weniger Skrupel als bei den Unternehmensübernahmen im Deutschen Reich; wichtigste Triebfedern ihres Handelns waren die Sorge vor Konkurrenz und Hoffnung auf Expansion in den besetzten Ländern. Scholtyseck erkennt die insgesamt bei deutschen Unternehmern diagnostizierte „Verrohung unternehmerischen Verhaltens“ auch im Verhalten der Freudenbergs wieder. Den späten Parteibeitritt der Freudenbergs, der 1943 erfolgte, aber auf 1941 rückdatiert wurde, erklärt der Autor mit taktischen Gründen. An ihrer ideologischen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus hatte sich nichts geändert.

Dass sich die Freudenbergs an der im Konzentrationslager Sachsenhausen eingerichteten „Schuhprüfstrecke“ beteiligten, hatte ökonomische Gründe und verweist nicht auf ideologische Übereinstimmung mit den Nationalsozialisten, wie Scholtyseck detailliert nachweist. Das Unternehmen hatte bereits ab 1937 „Schuhläufer“ eingesetzt, die als „Marathonläufer der Bergstraße“ in drei Jahren jeweils bis zu 40.000 Kilometern liefen. Bei der ab Juli 1940 in Betrieb genommenen, 700 Meter langen „Schuhprüfstrecke“, die im Eigentum des Reichs lag, waren alle großen Unternehmen der Schuh- und Lederindustrie beteiligt. Ein Experte der Freudenbergs war von Beginn an mit der Prüfstrecke befasst, auf der unter anderem Kleinkriminelle, Pädophile und Homosexuelle aus der Strafkompanie des KZ über zehn Stunden täglich auf etwa 40 Kilometern Ersatzstoffe testeten. Ab 1943/44 ergänzten Tests zur Leistungssteigerung von Medikamenten („Weckmittel“, „Energietabletten“) das Programm. Die meisten Testpersonen hielten die „barbarische Praxis“ (S. 361) nur wenige Wochen durch. Scholtyseck sieht die Taktik der Verschleierung und Verdrängung nach 1945 kritischer als die Beteiligung an der „Schuhprüfstrecke“, deren genaue Umstände die Unternehmensführung offenbar nie überprüfte. In den letzten Jahren trafen sich Familienmitglieder mit Überlebenden und übermittelten ihnen Geldbeträge.

Die Zwangsarbeiter bei Freudenberg kamen überwiegend aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden; 1942 erfolgte aber zusätzlich eine Zuweisung von etwa 200 ukrainischen Zwangsarbeiterinnen. Scholtyseck berichtet, den Wettbewerb um Zuweisung habe das Unternehmen „anstandslos“ mitgemacht (S. 384). Allerdings schrieb die Frau von Richard Freudenberg, ihr Mann komme sich wie ein „Sklavenhalter“ vor (S. 384). Die Arbeiter wurden bei Freudenberg besser als bei vergleichbaren Unternehmen behandelt, wie Scholtyseck erhellt. An der Stiftungsinitiative der Deutschen Wirtschaft „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ beteiligte sich das Unternehmen mit zehn Millionen DM; schon zuvor hatte es eine Aktion zur Unterstützung ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter gestartet.

Nach dem Krieg wurde Richard Freudenberg anderthalb Jahre inhaftiert. Das Spruchkammerverfahren zur Entnazifizierung endete im Juni 1947 mit Freispruch; er wurde als „entlastet“ eingestuft. Scholtyseck erklärt die unerwartete Milde damit, dass die Übernahmeversuche in den besetzten Ländern und die Beteiligung an der mörderischen „Schuhprüfstrecke“ der Spruchkammer nicht bekannt waren. 1949 kandidierte Freudenberg als parteiloser, von der FDP unterstützter Kandidat für den Deutschen Bundestag. Er errang mit 43 Prozent der Stimmen das Mandat, blieb aber nur eine Legislaturperiode im Parlament.

Besonders positiv fällt an Scholtysecks Studie die in allen Kapiteln sichtbar werdende kritische Distanz zum Untersuchungsgegenstand und die durchgängige Rückkopplung der Rechercheergebnisse an zentrale Erkenntnisse der NS-Forschung auf. Das große Lesevergnügen (wenn man bei einem solchen Thema davon sprechen mag) wird nur durch wenige Fehler getrübt, deren markantester wahrscheinlich ist, dass Scholtyseck den preußischen Finanzminister Johannes Popitz, der unlängst in einer Biographie gewürdigt wurde,4 zum Reichsfinanzminister macht (S. 314). Ungeachtet dessen liegt hier die konzise Geschichte eines heute noch bestehenden Unternehmens vor, die ob ihres unbestechlichen, stets fairen Urteils sowie der zeithistorischen Kontextualisierung unternehmerischen Handelns Maßstäbe setzt.

Anmerkungen:
1 Joachim Scholtyseck, Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933–1945, München 1999.
2 Joachim Scholtyseck, Der Aufstieg der Quandts. Eine deutsche Unternehmerdynastie, München 2011.
3 Anne Sudrow, Der Schuh im Nationalsozialismus. Eine Produktgeschichte im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich, Göttingen 2010.
4 Anne C. Nagel, Johannes Popitz (1884–1945). Görings Finanzminister und Verschwörer gegen Hitler. Eine Biographie, Köln 2015.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension